Nouria wird von 550 Kindern „Mama Nouria“ genannt, obwohl sie nie verheiratet war und nie eigene Kinder bekam. Die jemenitischen Straßenkinder ihres YERO-Projektes sind alle wie ihre eigenen und sie ist auf deren Entwicklung so stolz, wie es nur eine Mutter sein kann. Buchstäblich aus dem Nichts, in ihrem eigenen Wohnhaus, hat Nouria mit der Umsetzung ihrer Idee, bettelnde Kinder von der Straße zu holen und ihnen zu einer guten Ausbildung und einer Zukunftsperspektive zu verhelfen, begonnen und hat bis heute hunderte von Familien vor einem Leben in Armut bewahrt, was sie definitiv zu einer unserer DIY-(Welten)Macherinnen macht.
In unserem Interview mit Dr. Annelies Glander haben wir YERO schon kurz vorgestellt, heute spreche ich mit Nouria selbst.
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Fangen wir doch damit an, dass du uns ein bisschen mehr über dich und dein Leben vor deinem Projekt erzählst.
Ich habe den Großteil meines Lebens in London verbracht, als Kind habe ich mit meinen Eltern in Frankreich gelebt. Nachdem mein Vater pensioniert wurde, kamen wir nach Aden, doch in den Siebzigern kehrte ich nach London zurück um zu studieren. Dort habe ich auch viel wohltätige Arbeit mit Obdachlosen, in Seniorenheimen und Hospizen geleistet.
Du hast mit YERO in deinem eigenen Haus angefangen. Wie schwierig waren diese ersten Monate?
Ja, das stimmt, es hat wirklich alles in meinem eigenen Haus begonnen und es war schwierig am Anfang, so wie alle Anfänge immer schwierig sind. Ich kannte Sana’a nicht besonders gut und war auch nicht ganz sicher, was für ein Projekt genau ich umsetzen wollte. Aufgrund meiner Erfahrungen aus London hatte ich ursprünglich vor, ein Seniorenheim zu errichten, aber dann wurde ich von einem kleinen Mädchen, das noch nie eine Schule besuchen konnte, inspiriert und das Projekt, Kindern zu kostenloser Bildung zu verhelfen und gleichzeitig ihren Müttern eine Berufsausbildung zu ermöglichen, um sie unabhängiger zu machen, war geboren.
Wie viele jemenitische Kinder haben nach deiner Schätzung heute keinen Zugang zu Bildung?
Es gibt leider keine genauen Zahlen darüber, wie viele Kinder nicht mehr zur Schule gehen oder nie zur Schule gegangen sind, aber ich bin sicher, dass es über 2 Millionen sind, wenn nicht mehr. Wir müssen auch die Kinder berücksichtigen, die keine andere Wahl haben, die Schule aufgeben zu müssen, um zu arbeiten und zum Familieneinkommen beitragen zu können.
Inzwischen sind mehr als 450 Kinder Teil deines Projektes. Wie hat YERO ihr Leben verändert?
Inzwischen sind es sogar 550 Kinder, 11 von ihnen haben mittlerweile schon ihr Studium abgeschlossen, drei vor dem Krieg und acht in der letzten Woche. Wir feierten das mit einer großen Zeremonie Ich bin so stolz auf diese Kinder, die meisten von ihnen hatten ein hartes Leben, sie waren Straßenverkäufer und mussten schon als Kinder arbeiten, um mitzuhelfen, die Familie zu ernähren und trotzdem haben sie alle ihre Ausbildung abgeschlossen. Wie die meisten anderen unserer Kinder sind sie sehr ehrgeizig und aufgeschlossen, sie haben verstanden, welchen Stellenwert Bildung hat und was für einen enormen Einfluss sie auf ihr Leben haben kann.
Wie viele Mädchen sind ein Teil von YERO und ist es schwieriger als bei Jungen, Eltern die Notwendigkeit der Bildung bei Mädchen zu vermitteln?
Mittlerweile haben wir sogar mehr Mädchen als Jungen, aber am Anfang war es sehr schwer, die Eltern (besonders die Väter) zu überzeugen, dass Bildung für ein Mädchen ebenso wichtig ist wie für einen Jungen. Aber jetzt, seit sie sehen, wie viele Mädchen ihren Abschluss machen, sogar studieren und gute Jobs finden, weil sie Computerkenntnisse haben und Englisch sprechen, gibt es viel weniger Widerstände. Auch die Väter sehen, dass man mit einem Abschluss leichter Arbeit findet.
Du konzentrierst dich nicht nur auf die Kinder, sondern versuchst, die ganze Familie zu unterstützen, zum Beispiel durch Nähkurse für die Mütter. Wie wichtig ist es für jemenitische Frauen ein Stück finanzielle Unabhängigkeit zu gewinnen und wie gehen die Ehemänner damit um?
Wir müssen uns mehr auf die Familien an sich konzentrieren, denn die Familien sind ja der Grund dafür, dass die Kinder zunächst auf der Straße sind anstatt in der Schule. Deswegen ist es erst einmal sehr wichtig, die Probleme der Eltern zu lösen, um den Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Die Kinder müssen betteln oder arbeiten, um die Familie zu ernähren, und wenn wir dazu beitragen, dass die Mütter selbst Fertigkeiten erlernen können, die es ihnen ermöglichen, zum Familieneinkommen beizutragen, entlastet das die Kinder. Die Mütter werden von uns auch ermutigt, mit unseren zinsfreien Darlehen kleine Unternehmen zu gründen. In den meisten Fällen freuen sich die Ehemänner über die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen, es ist sogar schon öfter vorgekommen, dass die Männer zu uns kommen, um ihre Frauen in unserem Programm anzumelden.
Die Arbeitssituation im Jemen ist derzeit verheerend. Wie viele deiner ehemaligen Schüler haben nach ihrer Ausbildung keine Arbeit gefunden?
Das stimmt, es gibt im Moment kaum Jobs im Jemen, sogar diejenigen, die gute Arbeitsstellen hatten, haben sie wegen des Krieges verloren. Seit der Revolution geht es bergab in diesem Land. Unseren Absolventen geben wir jetzt Schreiben von uns mit, mit denen sie zu Unternehmen fahren und kostenlose Arbeit anbieten, um Berufserfahrung zu sammeln, bis der Krieg vorbei ist. Ihre Familien unterstützen wir in der Zwischenzeit mit Essensrationen.
Ist YERO direkt vom Krieg betroffen, wurden Schulen geschlossen, ist die medizinische Versorgung der Kinder noch gewährleistet?
Wie alle Jemeniten sind natürlich auch wir betroffen. Unser Center wurde beschädigt, die Fensterscheiben waren zerbrochen und ein Teil des Daches eingestürzt. Eine gewisse Zeit hatten wir jeden Tag Angst, den nächsten Tag nicht mehr zu erleben. Einige unserer Kinder wurden verwundet, aber Gott sei Dank nicht allzu schlimm. Ich selbst wäre zweimal fast gestorben. Wir haben alle unter dem Krieg gelitten, nächtelang nicht geschlafen wegen der Luftangriffe und der Bombardierungen ….. es war sehr hart für uns alle.
Jeder kann ein YERO-Pate werden. Für etwa 250€ im Jahr kann man der Pate eines bestimmten Kindes werden, sich Briefe schreiben und das Kind sogar besuchen. Haben schon viele solcher Treffen stattgefunden und wie bewusst sind sich die Paten über die profunde Art und Weise, auf die sie das Leben des Kindes verändern?
Hier möchte ich zunächst einmal sagen, wie dankbar ich Annelies Glander bin, denn ohne sie und ihre Unterstützung wäre unser Patenprogramm gar nicht möglich und YERO wäre nicht da wo es heute ist; und ohne die Paten könnten sich die Kinder nicht so sorgenfrei auf ihre Ausbildung konzentrieren, denn sie wissen, dass die Paten für die nötigen Schulmaterialien sorgen. Und ja, einige unserer Paten haben die Kinder auch schon besucht und sich sehr gefreut, mit eigenen Augen zu sehen, wie gut die Kinder sich entwickeln trotz der extremen Armut, in der sie aufwachsen, und wie hart sie daran arbeiten, ihre Lebensumstände zu verbessern.
2013 hat Königin Elisabeth II dir den “Order of the British Empire” verliehen, erzähl uns von dem Tag im Buckingham Palace und wie stolz waren deine Kinder zuhause im Jemen?
Für mich war es natürlich eine große Ehre, diesen Orden von der Königin verliehen zu bekommen. Auf dem Weg zum Palast habe ich die ganze Zeit an meine Kinder im Jemen gedacht und als ich an der Reihe war, war ich so stolz darauf, dass der Jemen und unser Projekt im Buckingham Palast genannt wurde. Es war ein sehr glücklicher Tag für mich. Auch die Kinder waren sehr stolz, vor allem weil ich die einzige arabische Frau bin, der jemals so eine Auszeichnung von der Queen überreicht wurde. Als ich zurückkam wurde ich von den Kindern und ihren Familien empfangen wie eine Kriegsheldin, die eine große Schlacht gewonnen hatte, es war wundervoll für uns alle.
Vor ein paar Wochen habe ich ein Interview mit Nadia al-Sakkaf, Jemens früherer Informationsministerin, geführt. Sie glaubt, es wird Jahrzehnte dauern, bis das Land sich vom Krieg wieder erholt hat, selbst wenn er morgen enden würde wonach es leider in keinster Weise aussieht) Welche Zukunft siehst du für den Jemen generell und für YERO im speziellen?
Es gibt hier ein Sprichwort: Während intelligente Menschen vereinfachen können, was sehr kompliziert ist, wird ein Narr oft das verkomplizieren, was eigentlich sehr simpel ist. – Genau das ist es, was gerade im Jemen passiert. Es mag Ewigkeiten dauern, den Jemen wieder aufzubauen, aber man darf nie die Hoffnung verlieren, ohne Hoffnung könnten wir ebenso gut tot sein. Mit der Entschlossenheit der Jemeniten werden wir dieses Land wieder auferstehen lassen. Wirklich unwiederbringlich sind nur die Leben der unschuldigen Menschen, die durch den Eigennutz selbsternannter Führer sterben mussten.
Was dieses Land am allernötigsten braucht sind gut ausgebildete Politiker, die ihr Land und ihr Volk lieben und nicht nur an ihr eigenes Wohlergehen denken. Und was die Zukunft betrifft: im Moment ist doch die ganze Welt eine einzige Katastrophe! Es gibt Länder, denen es noch schlechter geht als dem Jemen, obwohl ich natürlich hoffe, dass sich auch für uns das Blatt wendet und wir einer besseren Zukunft entgegenblicken. Mein Traum für YERO wäre, zu expandieren und so mehr jemenitischen Kindern eine Ausbildung ermöglichen zu können.
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Wer keine Patenschaft übernehmen kann, aber YERO gerne mit einer einmaligen Spende unterstützen möchte, kann das über Felix Arabia hier tun.
Quelle des Beitrags: http://blog24-7.sex-mit-sartre.de/2016/08/04/diy-weltenmacherin-nouria-nagi/